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Transkulturelle Avantgarde

Sophie Emilie Beha
DATE: 2021/05/11

Am 13. März 2021 wurde das Trickster Orchestra anlässlich seines ersten Album-Release im „Atelier neuer Musik“ im Deutschlandfunk porträtiert. Die komplette Sendung gibt’s hier zum Nachlesen.

 

Transkulturelle Avantgarde: Das Berliner Trickster Orchestra

Eine Sendung von Sophie Emilie Beha

 

Trickster sind mythologische oder volkstümliche Charaktere. Aufgrund ihres intellektuellen Talents und geheimen Wissens missachten sie gern konventionelle Regeln. Sie stören die göttliche Ordnung, die vermeintlich universell ist. Sie stehen für die Mehrdeutigkeit des Lebens genauso wie für die Bedeutung von Nachahmung und Verwandlung für kulturelle Innovation. Auf diese Art und Weise arbeitet auch das Trickster Orchestra, um das es in der heutigen Sendung geht. Seit 2013 fügt es verschiedene europäische und andere Musiktraditionen zusammen und geht einen Weg, auf dem Musikerinnen und Musiker verschiedenster Herkunft eine gemeinsame zeitgenössische Sprache entdecken.

So klingt das Trickster Orchestra aus Berlin. Gegründet haben es Cymin Samawatie und Ketan Bhatti im Jahr 2013. Cymin Samawatie ist Sängerin, Komponistin und Dirigentin. Sie ist in Braunschweig geboren und lebt in Berlin. Ihre Eltern kommen aus dem Iran. Sie beschreibt sich selbst mit „100% persischem Blut und 100% deutsch sozialisiert“. Sie hat in Hannover Schlagzeug, Klavier und Gesang studiert und danach in Berlin Jazzgesang. Dort hat sie im Studium Ketan Bhatti kenngelernt. Der Schlagzeuger und Komponist ist in Neu-Dehli geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er war früh in der Jazz- und Hip-Hop-Szene aktiv. In Berlin hat er Jazz-Drums studiert. Der 39-Jährige bewegt sich viel zwischen den Randbereichen einzelner Musikstile und erarbeitet Musik- und Tanztheater.

Beide haben zunächst in Cymins Jazzquartett zusammen musiziert. Es heißt Cyminology. Schon dort gingen sie der Frage nach, wie man Elemente aus verschiedenen Musiktraditionen miteinander verknüpfen kann und eine gemeinsame Sprache findet, erzählt Ketan Bhatti:

„Damals saß ich am Schlagzeug und Cymin fing an auf Persisch zu singen. Das war für mich so die erste Berührung mit der Frage: ‚Wie kann ich mich eigentlich mit etwas auseinandersetzen, was ich nicht so richtig verstehe?’ Und daraufhin folgte irgendwann der nächste Schritt, dass wir 2013 das Trickster Orchestra gegründet haben, in dem wir uns mit verschiedensten Klangfarben und Texturen aus den verschiedensten Musiktraditionen beschäftigen und versuchen, einen zeitgenössischen Ansatz zu finden.“

Das ist das Credo des Trickster Orchestras. Denn letztendlich ist es entstanden aus Unzufriedenheit über die aktuelle Situation – bei einem Education-Projekt der Berliner Philharmoniker. Ketan Bhatti:

„Was Cymin und ich teilten, war irgendwie eine gewisse Unzufriedenheit und die würde ich so beschreiben, dass wir das Gefühl hatten, dass sich diese verschiedenen Musiker*innen trotz der sehr wichtigen und guten Projektidee der Philharmoniker einfach aufgrund der begrenzten Zeit alle auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben beim Zusammenspielen. Eine Musikerin spielt dann den Grundton, auf den dann ein Musiker aus einer arabischen Tradition mit Skalen improvisiert. Und das war uns ein bisschen wenig.“

Ketan Bhatti und Cymin Samawatie fehlte das Gefühl des Austausches oder einer Zusammenführung der unterschiedlichen Musiktraditionen. In ihrer Musik wollen sie sich nicht mit dem kleinsten, gemeinsamen Nenner zufriedengeben, sondern machen sich auf die Suche nach dem Größtmöglichen: Ziel ist es, das Fremde zu kombinieren. Die Musikerinnen und Musiker sollen nicht nur das präsentieren, was sie kennen und können, sondern auch das Neue, Unbekannte – Fremde – wagen. Cymin Samawatie:

„Das ist ja so mein Steckenpferd, mein Thema: Wie komme ich raus aus der Komfortzone und wie kriege ich das hin, dass ich rauskomme aus meiner Komfortzone und auch noch Spaß dabei habe, dass mich das eher reizt und ich neue Seiten von mir entdecke. Und ich glaube, das ist auch das, was uns alle verbindet miteinander: Diese Leidenschaft. Ich denke, das ist das Besondere in dem Prozess, wenn wir sowohl komponieren als auch musizieren und improvisieren, dass wir sagen: Okay, wir sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, wir kommen aus sehr, sehr unterschiedlichen Ecken und wir wollen nicht einfach nur, dass einer bestimmt, wie alle spielen sollen oder sich verhalten sollen, sondern wir versuchen alle, diesen einen Schritt rauszugehen aus dem, wo wir uns sonst immer aufhalten. Und dann sind wir alle in einem Raum, der sich für uns etwas seltsam anfühlt und neu anfühlt. Und dann haben alle dasselbe Gefühl. Und aus diesem Gefühl heraus entsteht auf einmal Magie, musikalische Magie, Energie.“

Das Trickster Orchestra setzt sich aus Instrumentalisten der Berliner Philharmoniker zusammen, sowie Musikerinnen aus Syrien, Japan, China, Israel, Libanon, Sibirien und der Türkei. Sie spielen klassische europäische Instrumente und traditionelle wie die japanische Koto, die chinesische Sheng, die persische Nay-Flöte oder die arabische Kanun. Stilistisch vereint das Trickster Orchestra die unterschiedlichsten Musiktraditionen aus Neuer Musik, Klassik, Elektronik, Jazz, Pop, Hip-Hop und Improvisation. Das Kollektiv ist kein festes Orchester, das heißt, dass die Besetzung je nach Projekt wechselt: Meistens spielen ungefähr 20 Musiker gemeinsam auf der Bühne – insgesamt umfasst das Trickster Orchestra über 40 Mitglieder.

Das Trickster Orchestra will eine zeitgenössische, transkulturelle Musiksprache schaffen. Es überträgt Begriffe wie Kammerorchester oder Big-Band in postmigrantische Formen, die sich durch kulturelle Vielfalt auszeichnen. Das Kollektiv will Festgefahrenes aufbrechen. Das gelingt ihm nicht nur in der Besetzung, sondern vor allem durch seine einmalige Arbeitsweise: Es verfolgt das Prinzip der Nachahmung, auch Mimesis genannt. Ein Begriff, der eigentlich aus den Kulturwissenschaften oder der Biologie bekannt ist. Ketan Bhatti:

„Wir sind getrennt voneinander, aber auch nicht komplett getrennt voneinander. Es gibt Verflechtungen, aber wir haben keine Möglichkeit, einfach den anderen zu verstehen, sondern die einzige Art, wie wir uns verstehen, ist, dass wir in einen Nachahmungs-Prozess treten und das, was wir dann miteinander kreieren zusammen. Also ich und du – da wird eine dritte Ebene zwischen uns generiert und das ist die, die wir verstehen können. Das heißt, das, was wir zusammen in der Interaktion produzieren, ist das, was wir gemeinsam verstehen können. Und das fand ich total spannend, da dachte ich: Okay, das hat mich angesprochen.“

Die Musikerinnen und Musiker ahmen sich gegenseitig nach. Ein Beispiel: Die japanische Koto imitiert einen Kontrabass und andersherum – und weil die Instrumente eben nicht haargenau so klingen können wie ihre Gegenspieler, sondern dem immer nur ähneln, entsteht eine neue Ebene. Auf ihr können sich Koto und Kontrabass nun treffen und miteinander in Dialog treten.

Ein Klang-Beispiel für das Konzept der Nachahmung ist das Stück „Hafen vor Tounsibuurg“ von Ketan Bhatti. Es basiert auf einer grafischen Notation. „Tounsibuurg“ ist ein frei assoziierter Name für eine Utopie oder ein Land. Das Stück verkörpert die besondere Art der Arbeitsweise des Trickster Orchestras. Das Konzept der gegenseitigen Nachahmung. Bei dieser Art gemeinsam Musik zu machen, ist die Auswahl der Leute ganz besonders entscheidend, erzählt Ketan Bhatti, Gründer des Trickster Orchestras:

„Dann ist natürlich das Casting des Orchesters in dem Fall 90% der Musik, weil die Leute, die jetzt involviert sind, was die für Tools mitbringen, was die Persönlichkeiten mitbringen. Das ist das, was letztlich in dem Interaktions-Prozess und Nachahmungs-Prozess sich dann eben auch irgendwie veräußert, sich verwandelt zu etwas Neuem, aber natürlich trotzdem von irgendwo gestartet ist. Und insofern ist die Personalfrage die maßgebliche Frage, wenn es darum geht – gibt es irgendwelche Sachen, die stilistisch wiederkehrend sind in der Musik.“

Susanne Fröhlich ist Blockflötistin im Trickster Orchestra. Daneben spielt sie viel Neue und Alte Musik. Sie schätzt am Trickster Orchestra besonders die kollektive Arbeitsweise und die Improvisation:

„Das Schöne ist, dass jeder und jede gesehen wird. Und auch das machen kann, was er oder sie machen kann und möchte. Wo liegt hier das Potenzial? Es ist natürlich interessant, mal über seinen eigenen Schatten hinauszugehen, drüber zu springen und zu sagen: Jetzt wage ich mich mal raus. Jetzt lehne ich mich mal weit aus dem Fenster raus und wenn es mir dann zu viel wird, kann ich ja jederzeit zurückgehen und es wird immer akzeptiert und auch gesehen und verstanden.“

Die Musikerinnen und Musiker des Trickster Orchestras teilen alle die Leidenschaft, immer wieder gern ins kalte Wasser zu springen. Einige hat Cymin Samawatie sogar in ihrer eigenen Wohnung bei einer gemeinsamen Impro-Session gecastet. Jeder einzelne von ihnen ist nicht nur versiert auf seinem Instrument, sondern besitzt noch eine andere Fähigkeit, erzählt Ketan Bhatti:

„Letztlich haben wir lauter Solist*innen im Orchester, Spezialistinnen, könnte man auch sagen. Eines der Spezialgebiete, das dann alle teilen, ist eben diese Offenheit. Das ist ja auch eine Spezialität. Also alle haben riesige Ohren in unserem Orchester und ich glaube, das ist das, was bei unseren Konzerten dann eben das Wichtigste ist.“

In solchen Momenten entsteht auf der Bühne Magie, erzählen die Musiker. Zusammen versuchen sie das zu bündeln und festzuhalten. Susanne Fröhlich erinnert sich an einen ganz besonderen Moment:

„Das war eines der ersten größeren Projekte, wo ich mitgemacht habe mit Trickster. Modara hieß das, da waren wir in Neukölln. Und da hat irgendwie einer dann bei der Zugabe eine Bierflasche fallen gelassen oder sowas. Das haben wir dann in diese Impro noch integriert. Das war so witzig. Also da entsteht natürlich auch nochmal viel Nähe zum Publikum, wo dann plötzlich auch das Publikum Teil der Improvisation wird. Und diese Flexibilität hat man eigentlich selten bei einem reinen klassischen Konzert, sage ich jetzt mal.“

Das Trickster Orchestra ist ein Grenzgänger. Es hält sich an den Randbereichen der verschiedenen Musikstile auf, spielt mit ihnen und erforscht sie neugierig. Das Ensemble setzt sich bewusst zwischen die Stühle des herkömmlichen Kulturlebens. Dieser Status hat allerdings zwei Seiten der Medaille, weiß Cymin Samawatie:

„Auf der einen Seite ist es toll und macht Spaß und auf der anderen Seite denkt man: Mensch, ich will jetzt mal irgendetwas, was immer funktioniert. Und das geht bei unserer Arbeit nicht, wenn man diese Leidenschaft des Experimentierens beibehalten möchte. Es ist schon sehr schlimm immer für den, der das organisieren muss. (lacht)“

Das Trickster Orchestra will in keine Schublade gesteckt werden. Das kann Projektförderungen und Auftrittsmöglichkeiten erschweren. Fördergelder und Festivals sind oft an ein Genre wie Neue Musik oder Jazz gekoppelt – da fällt das Trickster Orchestra schnell heraus. Das Ensemble steht nun einmal bewusst zwischen den Genres oder westlicher und nicht-westlicher Musiksprache. Vor einigen Jahren hätte das das Trickster Orchestra sogar beinahe seine Existenz gekostet – denn fast schien es so, als würden keine Anträge bewilligt werden. Letztendlich hat sich dann aber doch alles zum Guten gewandt. Und mittlerweile wachsen sogar Akzeptanz, Verständnis und Geldtöpfe für solche Hybridformen und Konzepte.

Ihre Offenheit und Neugierde bewahren sich die Musikerinnen und Musiker trotzdem – das ist der Trumpf des Trickster Orchestras. Es spielt ihn gegenüber Genres und Musiktraditionen, aber auch gegenüber der Besetzung von Stücken und der eigenen Arbeitsweise. Immer wieder versuchen die Musiker, den Ist-Zustand in Frage zu stellen und sich selbst herauszufordern. Trickster-Gründerin und Komponistin Cymin Samawatie gibt ein Beispiel:

„Dann hab ich mir selber die Aufgabe gestellt und gesagt: Okay, wir haben diese tollen Klangfarben der Instrumente. Das könnte man doch eigentlich auch mit Sprachen miteinander kombinieren. Also wenn ich jetzt z.B. Hebräisch, Arabisch und Persisch miteinander verknüpfe, das müsste doch ähnlich sein, wie wenn ich Sheng und Jazz-Bassklarinette und klassisches Cello miteinander verknüpfe. Und dann nehme ich jetzt noch Bach dazu als noch eine Ebene und schau mal, ob das funktioniert. Also ohne zu wissen, ob es funktioniert, hab ich mich hingesetzt. Das war auch für mich sehr anstrengend. Einen Monat lang hab ich gearbeitet und immer wieder neu probiert und mir war das sehr wichtig, dass alles transparent bleibt, aber doch was Neues entstehen kann. Und dadurch ist das Stück ‚Gebete’ entstanden.“

Das Stück verbindet die drei Sprachen persisch, hebräisch und arabisch mit der Kontrapunktik von Johann Sebastian Bach. Das Trickster Orchestra hat es bereits bei seinem ersten Konzert 2013 uraufgeführt. Die Aufnahme stammt – wie die gesamte Musik in dieser Sendung – von einer CD, die nächsten Monat erscheinen wird. Das Trickster Orchestra hat nämlich seine erste CD beim Label ECM produziert. Sie erscheint am 23. April mit neun Stücken. Aufgenommen wurde sie im sagenumwobenen Meistersaal in Berlin. Cymin Samwatie und Ketan Bhatti haben die CD-Produktion sogar selbst mitfinanziert. Möglich gemacht wurde sie allerdings durch eine Basisförderung des Landes Berlin. Die Werke auf der CD stammen aus unterschiedlichen Projekten und repräsentieren das Kollektiv in seiner Vielseitigkeit. Auch der Aufnahmeprozess war geprägt von Flexibilität und Neugierde, erzählt Blockflötistin Susanne Fröhlich:

„Und dann gab’s eben in diesen Stücken Momente, wo improvisiert wird. Es war oft, dass es dann so eine Art Zwischen-Improvisation gibt. Manchmal wird aber auch das Stück durch eine Improvisation eingeleitet oder dann auch ausgeleitet. Manchmal gibt’s Übergänge, die dann geschaffen werden zum nächsten Stück. Das ist natürlich auch eine hochspannende und auch sehr sensible Arbeit, da feinfühlig an diese Stücke zu ranzugehen und zu gucken: Was fehlt da vielleicht noch? Oder was könnte da noch ein i-Tüpfelchen sein, damit dieses Stück dann noch mehr zur Geltung kommt.“

Neben Nachahmung und Improvisation ist ein wichtiges Element in den Stücken des Trickster Orchestras auch der Rhythmus. Das Kollektiv geht dabei der Frage nach: Wie kann man zeitgenössische Musik und Rhythmen, die sich beispielsweise in der Clubszene etabliert haben, sinnvoll verknüpfen? Die einfachste – und häufig auch die gängigste – Lösung wird vermieden. Man will keinen Orchesterklang über einer simplen Bassdrum, sondern Komplexität. Ein Beispiel dafür ist „Kords Kontinuum“ von Ketan Bhatti.

Das Stück erscheint auch auf der neuen CD des Trickster Orchestras. Ein nächstes Konzert findet am 2. Mai beim Tonlagen-Festival in Dresden statt und ist eng mit einem Herzensprojekt des Trickster Orchestras verwoben. Es heißt „Disturbing the Universal“ – „das Universelle stören“. Die Premiere konnte kurz vor dem ersten Lockdown im letzten Jahr noch gelingen. Elisa Erkelenz ist Dramaturgin des Trickster Orchestras und die künstlerische Planerin des Projekts. Sie spricht über die Recherche:

„Wir sind nach Thailand gefahren, nach Bangkok und Chiang Mai und haben uns eigentlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie das Neue in die Welt kommen kann. Also eigentlich wie Wandel entsteht. Ob durch Revolution, durch Zerstörung, durch Kooperationen, durch Gemeinschaftliches oder auch erst mal durch eben sehr abrupte Veränderungen. Und dazu haben wir recherchiert und dann eben gemeinsam dieses ‚Disturbing the Universal’-Projekt entwickelt.“

Die Auslandsreisen entstanden in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Auf seinen Reisen hat das Trickster Orchestra auch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammengearbeitet und das Thema „Wandel“ von verschiedenen Seiten beleuchtet: Welchen Wandel braucht eine postmigrantische Gesellschaft? Welche Kunstmusik gibt es neben der klassisch-europäischen und wie muss sie abgebildet werden? Welche Handlungen erfordert der Klimawandel? Neben der theoretischen Auseinandersetzung hat das Trickster Orchestra auch ganz praktisch mit Musikerinnen und Musikern vor Ort zusammen musiziert und improvisiert. Ketan Bhatti:

„Und das Ursprungs-Ziel war eigentlich dann die Leute einzuladen nach Berlin zu einer gemeinsamen Arbeitswoche, wo wir dann eben mit der Trickster-Besetzung zusammen ein Programm erarbeiten. Da hat uns die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber wir haben dann versucht, über verschiedenste digitale Formate zu arbeiten. Wir haben mit Videokünstlern aus Thailand gearbeitet, die uns Material dann geschickt haben, haben mit einer Sängerin aus Bangalore gearbeitet, die dann auch Aufnahmen gemacht hat, die wir dann benutzt haben, wiederum verfremdet haben und in unsere Improvisations-Prozesse involviert haben. Das Programm war davon geprägt, zwischen Improvisation und Komposition mit Elementen aus jeweils Bangkok und Bangalore zu arbeiten und dann ein Gesamtkunstwerk zu schaffen.“

Damit das Gesamtkunstwerk auch gebührend reifen und entstehen kann, hatten die Musiker vor der Premiere im Radialsystem in Berlin mehr Probentage als üblich. Blockflötistin Susanne Fröhlich hat das sehr genossen:

„Weil wir uns da wirklich mal die Zeit genommen haben: Wie klingt jedes Instrument mit einem anderen Instrument zusammen, also dass man auch mal solistisch ein bisschen was hören lässt und dann werden ganz viele Geschichten erzählt. Oder vielleicht dieselbe, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Also das war total faszinierend und das fand ich toll, dass wir da so viel Zeit hatten. Dann wird es ja wirklich spannend. Also Cymins und Ketans Arrangements und Stücke sind toll, aber was die dann so speziell macht, ist, was dazu noch passiert auf der Bühne zwischen uns Musikern und Musikerinnen. Aber auch mit der Dirigentin, denn Cymin dirigiert und gibt Zeichen. Und es ist dann oft so toll, weil sie halt spontan reagieren kann, wo sie sagt: Das finde ich jetzt gerade so super, was ihr da macht, das machen wir länger. Oder: Hört ihr mal auf, der spielt gerade was total Cooles und hört mal da alle hin. Diese Spontanität und Flexibilität auf der Bühne ist einfach das Geniale und ein Aushängeschild dieses Orchesters.“

So ist es auch im Stück „Hast Hustle II“ von Ketan Bhatti. Das Stück ist größtenteils durchkomponiert, wird aber zwischendurch immer wieder durch frei improvisierte Teile unterbrochen.

Ein wichtiger Diskurs, den das Trickster Orchestra immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise anstößt, ist das Thema Postkolonialismus. Denn das Trickster Orchestra will zwar bewusst zwischen den Stühlen stehen, wird aber immer wieder in die gleiche Schublade gesteckt. Sie trägt den Schriftzug „Weltmusik“. Ketan Bhatti:

„Ein Phänomen, mit dem wir auf jeden Fall regelmäßig konfrontiert sind in Deutschland, ist, dass, sobald ein Instrument wie eine Nay-Flöte oder eine Kanun auftaucht, dann der Begriff Weltmusik fällt und auch gar nicht kritisch hinterfragt wird. Und innerhalb der Bubble ist man da eigentlich schon ein bisschen weiter und weiß, dass Weltmusik eigentlich ein kolonialistischer Begriff ist. Also es setzt eigentlich immer noch diese Idee voraus: Es gibt uns und dann gibt’s die anderen.“

Das Trickster Orchestra versucht sich von dem Begriff zu lösen und sein Publikum zu sensibilisieren. Es thematisiert den Dekolonialismus in seinen Projekten wie „Disturbing“ und setzt dadurch ein wichtiges Statement in der Szene. Wie soll eine postkoloniale Gesellschaft ihr Zusammenleben gestalten? Diese Frage beantwortet das Trickster Orchestra nicht nur in seinen Projekten, sondern genauso im musikalischen Alltag.

Die einzelnen Gedanken der Musikerinnen und Musiker fließen in den Entstehungsprozess der Kompositionen mit ein. Jede und jeder ist Teil des Kollektivs und stellt als Individuum solistisch seine eigenen Vorstellungen zu Verfügung. Die Arbeitsweise des Ensembles ist nicht nur geprägt von Nachahmung, sondern auch von Dekonstruktion und kollektivem Aufbau.

Und dafür steht es sogar mit seinem Namen. Denn „Trickster“ ist eine Gestalt, die in allen Mythologien der Welt vorkommt. Es ist ein Formwandler – je nach Mythologie wechseln die Trickster ihre Gestalt oder ihr Geschlecht. Ihre Aufgabe ist aber immer die gleiche: Sie wollen die göttliche, vermeintlich universelle, Ordnung in Unordnung bringen. Sie verwirren das System oder stiften Chaos. Aber wie schon Richard Wagner und Pierre Boulez wussten: Zerstörung schafft Raum für Neues. Und so ermöglichen auch die Trickster kulturelle Erneuerung.

Diese Figur scheint dem Trickster Orchestra wie auf den Leib geschneidert. Es will Konventionen und Ordnung aufmischen und in Frage stellen, aber stets auf eine liebevolle und humorvolle Art und Weise.

Das Stück „Keske“ haben Cymin Samawatie und Ketan Bhatti gemeinsam komponiert. Es ist aus dem Projekt „Divan-Berlin-Istanbul“ entstanden, bei dem acht Musikerinnen des Trickster Orchestras zusammen mit acht Musikern des Hezarfen Ensembles aus Istanbul, sowie jeweils drei Dichtern aus Türkei und Deutschland zusammengearbeitet haben.

Das Trickster Orchestra ist kein festes Orchester. Das bedeutet, dass sich die Besetzung der Mitglieder immer wieder ändert. Stücke müssen von Projekt zu Projekt umgeschrieben und neu arrangiert werden, erklärt Ketan Bhatti:

„Und das heißt, man kommt nicht zum Konzert und hat seine Noten wie immer dabei, sondern man kriegt eigentlich für jedes Projekt neue Noten, die wir immer alle machen müssen. Und selbst wenn es ein Stück gibt, was schon mal gespielt wurde, gibt’s dafür auch schon wieder die neue Version. Und das ist auch für alle Beteiligten schwierig, weil das heißt, die Bassklarinette, die in dem Stück eigentlich immer diese und diese Töne gespielt hat, spielt jetzt plötzlich bei dem zweiten Konzert das gleiche Stück, aber nicht mehr diese und diese Töne, weil jetzt ist noch die Oud dabei und die spielt an der Stelle, diese und diese Töne. Und so erklingen die Stücke auch immer wieder neu. Und das ist, auf der einen Seite könnte man sagen, erfrischend, weil auch das ist natürlich spannend. Das heißt, kein Konzert gleicht sich. Aber zum anderen ist es natürlich ein riesiger Kraftaufwand, den wir aber gerne auf uns nehmen. Weil wir verrückt sind.“

Das Trickster Orchestra bleibt seinen Prinzipien treu und geht einen selbstgewählten Weg. Für die Trickster-Dramaturgin Elisa Erkelenz ist das radikal:

„Weil es sehr, sehr eigen seinen Weg geht und ich das Gefühl habe, es ist wenig Trend dabei. Das ist nicht: So wird es gemacht und deswegen orientieren wir uns jetzt daran, sondern es ist sehr, sehr eigen geprägt. Was natürlich an Ketan und Cymin liegt, die auch einen sehr besonderen Hintergrund haben. Aber auch an den einzelnen Solist*innen, die ja alle sehr starke individuelle Musiker-Persönlichkeiten sind. Jeder hat im Grunde auch so seine Geschichte mit der Tradition auf irgendeine Weise zu brechen. Wie gebrochen wird, sieht natürlich immer sehr anders aus. Also radikal ist es im Grunde in seiner Eigenständigkeit.“

Das Trickster Ensemble ist aber nicht nur radikal nach außen hin, sondern auch nach innen. Es hat sich seinen Namen, das Aufmischen vom Gängigen, nicht nur auf die Fahnen geschrieben, sondern jeder Einzelne aus dem Ensemble auch gründlich hinter die Ohren: Die Musikerinnen und Musiker hinterfragen nicht nur gesellschaftliche Konventionen, sondern auch eigene Gewohnheiten. Die Komfortzone muss verlassen werden, weiß Blockflötistin Susanne Fröhlich:

„Also ich würd sagen, dass der Trickster an uns allen so ein bisschen rüttelt. Weil der mich auch dazu zwingt, mich und meine Musik ein bisschen zu hinterfragen und immer dran zu rütteln. Gibt’s denn da nicht noch mehr? Ist da vielleicht eine andere Richtung, wo ich mal hinschnüffeln möchte oder dem ich mich widmen möchte?“

Neben der CD-Veröffentlichung sind außerdem in diesem Jahr Projekte geplant, die aufgrund der Corona-Pandemie nicht im letzten Jahr stattfinden konnten. Mit dabei ist ein gemeinsames Projekt mit der Komischen Oper Berlin, in der es um die Themen Flucht, Vertreibung und Heimat geht. Das Projekt hätte eigentlich im Mai letzten Jahres stattfinden sollen. Trickster-Gründerin Cymin Samawatie:

„Wir mussten uns einfach auf etwas Neues einlassen. Eigentlich war es größer geplant mit 15 Musiker*innen von der Komischen Oper und 15 Musiker*innen vom Trickster Orchestra. Das haben wir dann reduziert auf acht plus acht. Und dann alles mit Sicherheitsabstand. Wir hatten drei Meter voneinander Abstand. Das war auch ganz seltsam. Ich hatte dann entsprechend noch mehr Abstand als Dirigentin. Und da muss man mit umgehen. Das war nicht unbedingt per se in der Komposition angelegt. Aber man geht dann ganz kreativ in diesem Moment damit um. Und ich dirigiere einfach, auch wenn ich überhaupt nicht höre, ob jetzt die Bassflöte wirklich zusammenspielt mit der Klarinettistin, die in der ersten Reihe sitzt. Aber man macht einfach und es wurde festgehalten. Man kann das auch immer noch auf YouTube sehen und ich freue mich, wenn wir das irgendwann auch nochmal live aufführen dürfen.“

Ein anderes Projekt findet in Zusammenarbeit mit der Neuköllner Oper Berlin statt. Der Titel lautet: „Der Mann, der sich Beethoven nannte“ – denn Beethoven war auch ein schelmischer Trickster. Cymin Samawatie erzählt es so:

„Und dieses Stück hätte eigentlich schon letztes Jahr Premiere feiern sollen, am 28. November. Wir durften noch ganz fleißig proben, haben es allerdings bewusst nicht premierenreif geprobt, sondern haben uns das aufgehoben und werden spätestens im Oktober wieder anfangen mit den Proben. Und dann wird die Premiere am 25. oder 26. November gefeiert in der Neuköllner Oper Berlin. Es wird auf jeden Fall was zum Lachen geben und zum Nachdenken und sicherlich auch Überraschungsmomente.“

Neben tollen neuen Projekten gibt es auch ein großformatiges Ziel, das das Trickster Orchestra formuliert. So simpel das klingt: Es will Musik machen. Es will eine Öffentlichkeit haben, ein Publikum und einen Raum, in dem es seine geschraubten, verknüpften und augenzwinkernden Klänge präsentieren kann. Das Kollektiv predigt nicht nur Innovation, sondern lebt sie auch: Die Musik ist so vielschichtig, individuell und plural wie seine Mitglieder. Trotzdem entsteht jede Note mit einer Botschaft – wie wichtig und notwendig es ist, die bequeme Ecke zu verlassen und sich dem Unbekannten zu widmen. Und das macht dieses Ensemble so faszinierend.

Für die Zukunft wünscht sich das Trickster Orchestra eine institutionelle Verankerung. Ketan Bhatti:

„Weil das ist natürlich bei allen freien Ensembles in der freien Szene die harte Realität: Man ist von Fördergeldern abhängig, man schreibt Anträge wie ein Verrückter. Man lebt immer mit der Existenzangst, ob man das dann nächstes Jahr noch hinkriegt. Da sind wir alle in einem Boot, die sich quasi nicht in institutionell geförderten Orchestern bewegen. Das ist halt das Problem. Und da wäre natürlich ein Ziel, dass man Strukturen schafft innerhalb der Gesellschaft, die dafür sorgen, dass Leute wie wir arbeiten können und die Geschichten, die wir erzählen wollen und die Ästhetiken, die wir transportieren wollen, auch stattfinden können.“

In Berlin hat die Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters den Begriff „postmigrantisch“ geprägt. Was bedeutet Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland? Das Gorki will radikale Diversität und Gesellschaft verändern. So ein Maxim-Gorki für Musik wäre ein Traum, sagt Ketan Bhatti.