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Kunstmusik und Dekolonisierung

Philip Geisler
DATE: 2023/03/24

Das Trickster Orchestra bringt Vielstimmigkeit, Experiment und Diversität von Besetzungen, Arbeitsmethoden und Spielweisen in die Erarbeitung und Aufführungspraxis der zeitgenössischen Kunstmusik ein. So ergründen wir, wie das zeitgenössische Musikgeschehen dekolonisiert werden kann.

 

Warum Dekolonisierung?

Das Trickster Orchestra vereint Solist:innen verschiedenster Traditionen in einem Kollektiv der trans-traditionellen Kunstmusik. Trickster sind mythologische oder literarische Charaktere, die durch intellektuelles Talent und geheimes Wissen konventionelle Regeln missachten. Als mehrdeutige Gestaltenwandler:innen stören sie die göttliche universelle Ordnung und bewirken Wandel, indem sie etablierte Kategorien durchbrechen. Diese Figuren sind der Ausgangspunkt für unsere Arbeit. Über das Paradigma des Tricksters begegnen wir Aussagen vieler Musiker:innen, die mit einstmals außereuropäischen Instrumenten in Deutschland arbeiten: Es erscheint ihnen als musicians of colour mit breitem Wissen in global weit verteilten Musiktraditionen schwer, als zeitgenössische Musiker:innen anerkannt zu werden. Stattdessen machen sie die Erfahrung, statisch darauf festgelegt zu sein, das „Andere“, „Exotische“ oder „Vergangene“ zu repräsentieren. Auch der einst sinnvoll und konstruktiv entstandene Begriff der Weltmusik ist für viele von ihnen eine Barriere, denn mit solchen Genrezuordnungen gehen ungleich verteilte Anerkennungs- und Zugehörigkeitsformen sowie Ressourcen wie Gelder, Häuser, mediale Formate, Öffentlichkeiten und Förderprogramme einher.

 

Was bedeutet für das Trickster Orchestra Dekolonisierung?

Über Jahrhunderte war die Welt durch europäische Mächte kulturell, politisch, ökonomisch und ökologisch kolonisiert. Diese Machtverhältnisse haben die Welt so sehr geprägt, dass sie längst nicht überwunden sind. Der Postkolonialismus entstand ab Mitte des 20. Jahrhunderts als kritische Auseinandersetzung mit dieser Geschichte. Er untersucht, wie der Kolonialismus Kultur und Geschichtsläufe verändert hat. Postkolonialismus ist ein kritisches Denkmuster, das die Welt über (nach-)koloniale Verhältnisse versteht.

Dekolonisierung geht einen Schritt weiter. Sie bedeutet für das Trickster Orchestra, diverse außereuropäische Musiktraditionen und Perspektiven in die ästhetische Suche nach einer heutigen zeitgenössischen Klangsprache einzubeziehen, um fortbestehende koloniale Machtverhältnisse in der Musik aufzubrechen. Das Orchester macht Vorschläge, wie Musik außerhalb kolonialer, eurozentrischer Zwänge und Hierarchien in Zukunft funktionieren kann. Es erkennt dazu nicht-europäische Wege der Welterfahrung und des musikalischen Ausdrucks als gleichrangig an und lernt von ihnen statt über sie. Während wir als Orchester postkolonial denken und an Musik herangehen, ist unsere musikalische Praxis ein Versuch, das gegenwärtige und zukünftige Musikgeschehen dekolonial zu gestalten. Wir möchten Zuhörende in die Lage versetzen, sich ihrer Positionalität bewusst zu werden.

Nachdem koloniale Ordnungen die Welt lange geprägt haben, ist es unmöglich, sie zu beseitigen. Höchstens entdeckt das Orchester Spuren dessen wieder, was kulturell unweigerlich verloren gegangen ist. Als multidiverses Orchester steht es dabei nicht außerhalb lokaler Geschichte. Das Trickster Orchestra ist Teil deutscher Kultur und Denkmuster und daher nicht frei davon, eurozentrisch zu sein.

Wir wollen unsere Arbeit aber selbstreflexiv als Suche nach gerechteren Wegen und ästhetischen Formen gestalten, die koloniale Weltsichten, Sprechweisen und kulturelle Aneignungsformen kritisch bedenkt und aufzubrechen beginnt. Dieser Versuch begründet ein neu formiertes Orchesterleben. In diesem ist die Anerkennung zentral, dass Ordnungen, Kategorien und Grenzziehungen in der Musik nicht neutral, sondern politisch und wertend sind. Es beginnt damit, zu verstehen, wie die eigene künstlerische Arbeit eurozentrische Sichtweisen aufrechterhält und dass Unterschiedliches gleichwertig ist.

 

Das Problem der „Weltmusik“

Im Mittelpunkt einer dekolonisierenden Erarbeitung und Aufführung von Kunstmusik steht es, Abstand von hierarchisierenden Wertungen und Begriffen zu nehmen. Ordnungskategorien für Kunstmusik haben diese unter anderem in „klassische“ und in „Weltmusik“ geteilt. Die „Klassik“ deutet dabei auf universelle europäische Kunst – „Weltmusik“ auf lokale, außereuropäische Kultur. Auch wenn uns bewusst ist, dass die Entstehung des Weltmusikbegriffs ein konstruktiv gemeinter Versuch war: In unserer Arbeit möchten wir Trennungen überwinden, die das eine als folkloristisch, exotisch oder ethnisch markieren und das andere als allgemeingültige Hochkultur feiern.

Aus unserer Sicht sind alle komplexen Musikformen Teil von individuellen kulturellen Entwicklungen. Sie alle beruhen auf Traditionen, also auf Ideen und Praktiken, die einmal entwickelt und dann weitergegeben wurden. Keine ist universell, d.h. keine gilt grundsätzlich für alle Menschen gleich. Die Welt sieht anders aus, je nachdem, von wo aus man sie betrachtet. Auch Kunstmusik und vor allem die westliche Musikgeschichte ist partikular, lokal und begrenzt gültig. Der Kolonialismus hat aber das Ziel verfolgt, die europäische Form der Musikausbildung, -ausführung und –dokumentation universell zu etablieren, lokale Traditionen für europäische Ohren zu verändern oder sie zu beseitigen. In einem dekolonialen Rahmen ist die europäische klassische Musik daher nicht natürlicherweise universeller oder weniger ethnisch als die indonesische, nigerianische oder chinesische Musik.

 

Wie das Trickster Orchestra arbeitet

Das Trickster Orchestra begegnet dieser Ordnungslogik mit trans-traditioneller Musik. Statt von Begriffen wie Authentizität, Differenz oder Andersartigkeit auszugehen, schätzt das Trickster Orchestra verschiedene Perspektiven und Standpunkte als künstlerisches Potenzial. Es lässt Musik von innen heraus durch Vielfalt entstehen und gleitet zwischen multiplen Herangehensweisen an Musik hin- und her, statt eine als die beste, richtige oder höchstentwickelte Art zu privilegieren.

 

1) Multidiverse Besetzungen

Diversität begründet die Besetzungen im Trickster Orchestra. Das Orchester wird paritätisch geleitet. Musiker:innen sind Deutsche erster oder zweiter Generation, selbst zugewandert, queer, zur Hälfte weiblich, und zu einem Großteil people of color. Wir unterscheiden dabei zwischen einer internationalen und einer diversen Besetzung.

Das Orchester vereint multidiverse Musiktraditionen der freien Musikszenen. Es ist ein außergewöhnliches Ensemble, das eine beispiellose Breite an Instrumentierungen und Spielweisen in die zeitgenössische Kunstmusik einbezieht. Traditionen finden konstruktiv und auf Augenhöhe zusammen. Maßgabe ist dabei, dass alle sich immer wieder aus ihrer Comfortzone herausbewegen: Es wird nicht über etwas Ungewohntes, sondern voneinander gelernt. Dieser Kaleidoskop-Ansatz antwortet auf die Gefahr kultureller Aneignung, die eine solche Arbeitspraxis mit sich bringt.

Es entsteht ein Zusammenklang von Jazzschlagzeug, elektronischen Samples, selbst gebauten Gitarren und Flöten, der japanischen Koto, der arabischen Oud, Bassklarinette, persischen Vocals, europäischem Cello, deutscher Lyrik, Jazz-Posaune, chinesischer Sheng, der Paetzold Flöte und vielen anderen Instrumenten – Kunstmusik wird zum Ausdruck einer pluralen und diversen Gesellschaft.

 

2) Improvisation im Arbeitsprozess

In der Erarbeitung geht es darum, diese Vielfalt und Präsenz der Besetzung auf alle Ebenen musikalischen Schaffens anzuwenden, neben den Instrumentierungen auch auf Texturen, Rhythmik, Melodik und Partituren. Auf der Suche nach dekolonisierter Kunstmusik lotet das Trickster Orchestra das Verhältnis von Improvisation und Komposition neu aus.

Eine besondere Rolle spielen Nachahmungsprozesse. Wenn im Orchester alle beginnen, sich nachzuahmen, dann entsteht ein ebenes Spielfeld, um Spielweisen zu brechen, neue Texturen für Instrumente zu erkunden und sie einander ähnlich zu machen. Wenn zwei sich begegnen, die sich nicht verstehen können und beginnen, sich nachzuahmen, entsteht etwas Drittes, über das sie sich aufgrund von Ähnlichkeiten verständigen können.

 

3) Gestaltwandlung

Das Trickster Orchestra wandelt seine Gestalt, wie es auch Tricksterfiguren selbst tun. Es versteht sich als Kollektiv. Die Besetzungen für Auftritte greifen auf Mitglieder des Kollektivs zurück und verändern sich. Das fördert die fortwährende Transformation von Musiksprachen und des Klangspektrums, es betont das Arrangement. Stücke und Improvisationen werden so kaum statisch wiederholt, Improvisationen klingen immer neu.

Das Trickster Orchestra setzt außerdem auf einen im Klang gedachten experimentellen Dialog von Wissenschaft und Musik. Es kollaboriert multimedial mit Lyrik, Videokunst, Tanz und visueller Kunst – die kategorischen Grenzziehungen zwischen solchen Ausdrucksformen werden destabilisiert.

 

4) Trans-traditioneller Organismus

Unsere kollektiven Erarbeitungsprozesse und Stücke heben alle Musiker:innen als Meister:innen über die Tradition ihrer Instrumente hervor. Alle kennen die Feinheiten ihrer Instrumente gut genug, um ihre Grenzen zu erweitern und sie in neuen Tönen und Rhythmen zu befreien. Musiker:innen werden zu Lehrerenden des Instruments und nicht umgekehrt.

Die Tradition liegt dabei im Wissen der Musiker:innen. Tradition ist nicht der Klang, sondern die Fertigkeit; nicht die Partitur, die originalgetreu gelernt wird, sondern die Stunden der Hingabe, die in das Erlernen der Partituren gesteckt wurden. Das befreit die Instrumente davon, so tun zu müssen, als ob sie zu dem zurückkehren, was wir uns heute vorstellen, dass sie einst gewesen sein könnten. Instrumente werden zu neuen Artikulationen ihrer selbst. Der Prozess steht im Mittelpunkt künstlerischen Ausdrucks.

Auf solchen künstlerischen Wegen wollen wir Hierarchien loslassen – im Idealfall selbst jene, die uns selbst Priorität geben – und zumindest vorübergehend der künstlerischen Position Vorzug geben, in der wir uns nicht befinden. Das Orchester als Organismus zu verstehen, bedeutet, nicht nur zu tolerieren, sondern tief zu respektieren, was man noch nicht kennt und nicht versteht. Jedes Projekt, jede Aufführung und jeder Prozess geht dabei dynamisch in diesen kollektiv lernenden Organismus ein und verändert nachhaltig seine Arbeitsweisen.

 

Dekolonisiertes Orchesterleben

Aus diesen Elementen formiert sich ein neues Orchesterleben. Das sieht im Trickster Orchestra so aus:

 

>>> Trans-traditionelle Kunstmusik versteht sich als Kaleidoskop, das historische, geografische und kulturelle Querverbindungen anerkennt, um eine neue Komplexität zu ermöglichen, die eine größere kreative Tiefe verspricht.

 

>>> Trans-traditionelle Kunstmusik wird nicht in Form des Predigens, sondern des Symposiums kollektiv erarbeitet.

 

>>> Trans-traditionelle Kunstmusik bezieht multidiverse Erfahrungen, Sprachen und Wissensformen ein.

 

>>> Trans-traditionelle Kunstmusik schätzt Mehrdeutigkeit und Verwandlung und fördert die Begegnung mit dem Unbekannten.

 

>>> Trans-traditionelle Kunstmusik ist mehr als Hören – Aufführungsformate, Libretti und Kollaborationen sind multisensorisch.

 

>>> Kunstmusik ist mehr als europäische klassische Musik und ihre zeitgenössischen Linien. Trans-traditionelle Musik wertet die Improvisation des Jazz, die Modi arabischer Kunstmusik, die Mikrotöne elektronischer Musik und die Notation europäischer Musik allesamt als komplexe, traditionelle Kunstformen. Genres und Kategorisierungen hindern daran, von diesen Wissensformen zu lernen und über sie neue Ausdrucksweisen zu finden.

 

>>> Kunstmusik ist ein Netzwerk, dessen globale Knotenpunkte gleichbedeutend wichtig sind. Es gibt keine Zentren und daneben exotische Randerscheinungen. Zeitgenössische Kunstmusik wird von den unterschiedlichsten Menschen in vielen Variationen rund um die Welt praktiziert.

 

>>> Das Orchester ist sensibel für Ausgrenzungsmechanismen und ethnische Aspekte. Es bildet eine große ethnische und Geschlechterdiversität ab.

 

>>> Komponist:innen of color, Libretti und Themenschwerpunkte rücken Erfahrungen in den Vordergrund, die nicht mehrheitlich (nicht-majoritär) sind.

 

>>> Die Präsenz von Musiker:innen, Komponist:innen und Dirigent:innen aus nicht-majoritären Ethnien, Geschlechtern und Regionen erlaubt es, eine größere Bandbreite an ästhetischen und methodischen Richtungen zu hören.

 

>>> Traditionen sind Werkzeugkästen, durch die musikalische Erneuerung freigesetzt wird. Das geschieht dynamisch und lernend, nicht statisch und wiederholend.

 

>>> Klänge, Texturen und Reize zu erweitern ist wichtiger als einen Kanon, ein Genre oder Konventionen zu erfüllen. Der Kanon wird entgrenzt und das Orchester hört auf, eine angemessene Distanz zum Werk einzunehmen.

 

>>> Multiplikation der Perspektiven bedeutet Multiplikation der Möglichkeiten und Ausdrucksformen.